Der „Semmelweis-Reflex“

Bei Diskussionen im Kontext der Medizin wird sehr häufig vorausgesetzt, dass Menschen sehr rational handeln und Fehlverhalten entweder erkennen oder bei Hinweis darauf ändern. Leider gibt es aus der Vergangenheit teilweise extreme Beispiele, die dem widersprechen. Eines davon ist die Geschichte des Arztes Ignaz Semmelweis. Ende des 19. Jahrhundert arbeitet er als Assistenzarzt in der Geburtshilfe im Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Es gab dort zwei Abteilungen, wo Kinder geboren wurden. In einer davon arbeiteten ausschließlich Hebammen, in der anderen auch Ärzte und Medizinstudenten. Leider war es so, dass die Rate von Frauen, die in den ersten Wochen nach der Geburt gestorben sind, in dieser Abteilung dreimal so hoch war.

Semmelweis untersuchte diese Auffälligkeit und fand heraus, dass es an mangelnder Hygiene lag. Da die Medizinstudenten neben der Geburtshilfe auch Leichen untersuchten, ohne dabei die Hände gründlich zu reinigen, wurden tödliche Bakterien übertragen. Nachdem in dem Krankenhaus die Regelungen für Hygiene angepasst wurden, ist die Sterblichkeitsrate von 12 auf 3 Prozent gesunken.

Anstatt, dass nun aber die gesamte Ärzteschaft diese Erkenntnis begrüßt hat und überall die Hygieneregelungen angewendet wurden, gab es deutliche Kritik. Die Aussage, dass ein „Arzt schuld am Tod einer Patientin“ (1) sein konnte, war unvorstellbar. Die Universitäten lehnten Vorschriften zur Hygiene ab, auch nach Veröffentlichung seines Buches „Ätiologie, Begriff und Prophylaxis des Kindbettfiebers“ von 1861. Vier Jahre später wurde Semmelweis dann „ohne Diagnose in eine psychatrische Klinik bei Wien eingewiesen… Dort starb er nach nur 2 Wochen infolge eines angeblich tätlichen Angriffs auf das Personal.“ (1) Es mussten weitere 20 Jahre vergehen, bis die Akzeptanz der Aussagen von Semmelweis in medizinischen Kreisen erfolgt ist.

Auch wenn das nun schon viele Jahre zurück liegt, sollten wir nicht vergessen, dass Menschen nicht per se rational handeln. Die Wahrung eines wie auch immer gearteten Images, die Motivation einen Gesichtsverlust zu vermeiden und andere Beweggründe führen dazu, dass Menschen zu Ungunsten anderer handeln. Dieses zu erkennen und transparent zu machen, ist wichtig und auch für uns als Gesellschaft unabdingbar.

Quelle:

(1) „Schlechte Medizin – Ein Wutbuch“, Dr. med. Gunter Frank, btb Verlag, 1. Auflage, 2013.